Fünf persönliche Gebrauchsanweisungen für die zeitgenössische Stadtplanung
Im Dictionnaire des idées reçues hat Gustave Flaubert den Volksmund über die Architekten befinden lassen: »Alles Dummköpfe.«1»Tous imbéciles.« Gustave Flaubert, Dictionnaire des idées reçues (1911–1913), Paris: Éditions du Boucher, 2002, S. 6. Die Versuchung, das ebenso vernichtende wie sarkastische Urteil in unseren Tagen auf die Urbanisten auszuweiten, liegt nahe.
Tatsächlich befindet sich der Städtebau in ganz Europa in einer Krise; sowohl was seine Theorie als auch was seine Praxis betrifft. Kein Zweifel, dass sich die Städte, die Dörfer und die urbanisierten Landstriche in einem tiefen Strukturwandel befinden: politisch, ökonomisch, ökologisch, technisch und gesellschaftlich. Kein Zweifel auch, dass dieser Strukturwandel, der vielerorts die bestehenden sozialen Beziehungen von Grund auf erschüttert und damit auch die baulichen Ressourcen infrage stellt, der städtebaulichen Disziplin neue Strategien abverlangt.
Erfolgreich scheint sie zunächst kaum zu sein. Unsere historischen Stadtzentren werden immer wieder durch unzulängliche bauliche Eingriffe verunstaltet und durch Nachlässigkeit oder planerische Fehlentscheidungen misshandelt, während die neuen Peripherien, in welche unsere Städte mit zunehmender Geschwindigkeit auswuchern, sich mehrheitlich als ebenso trostlos wie unwohnlich erweisen. Unter einem Expansionsdruck, auf den sie konzeptionell nicht vorbereitet waren, sind die städtebaulichen Projekte der letzten Jahrzehnte an ihrer Aufgabe, Orte für das gute und produktive Zusammenleben von Menschen zu schaffen, zumeist gescheitert.
Die Theorien, die die Projekte untermauern, stehen mitnichten besser da. Sie geben sich entweder undurchdringlich, indem sie neuartige, nur mehr aus virtuellen (und obskuren) Kraftfeldern bestehende Ballungsräume beschwören, oder aber affirmativ, indem sie von der Unplanbarkeit der heutigen Stadt faseln und die vollzogenen urbanistischen Übervorteilungen wortgewaltig rechtfertigen. Mit der städtischen Wirklichkeit und vor allem mit ihrer konkreten Verbesserung haben sie immer weniger zu tun. Vor diesem Hintergrund scheint es nicht unangebracht, neu oder zumindest unvoreingenommen über das Entwerfen und Bauen von Stadt nachzudenken.
Keine Stadt wird gut, wenn die Aufgabe, die sie zu erfüllen hat, nicht klar und klug formuliert ist, mit anderen Worten: wenn ihr Programm nicht stimmt. Ein Programm, das nur oder überwiegend Wohnungen vorsieht, erzeugt Schlafgettos, die tagsüber fast immer trostlos daliegen. Ein Programm, das nur oder überwiegend Büros vorschreibt, erzeugt Arbeitsstädte, die nach Feierabend aussterben. Emblematisch für die erste Gattung ist Sarcelles nördlich von Paris, das größte der insgesamt 200 grands ensembles, die in den fünfziger und den sechziger Jahren in Frankreich entstanden und der »Sarcellite« ihren Namen gab, einer sozialen Krankheit, die sich als Mischung aus Entfremdung, Depression und Verwahrlosung beschreiben lässt. Für die zweite Gattung, die reine Arbeitsstadt, steht wiederum in Paris La Défense mit ihrer unterkühlten urbanen Umwelt aus gläsernen Bürobauten.
Im Programm müssen die Aufgaben der Stadt formuliert und quantifiziert werden: Wohnen und Arbeiten in einem ausgewogenen Verhältnis, in sich unterteilt nach Ansprüchen, Lebensweisen, Produktionsorten. Dazu Bildungs- und Versorgungsfunktionen, Kultur, Unterhaltung, Erholung, Mobilität. Anders, konkreter ausgedrückt: Eine Stadt muss aus Wohnungen für unterschiedliche Einkommens- und Gesellschaftsschichten bestehen, aus in sich differenzierten Arbeitsplätzen, Büros, Werkstätten und Fabriken, Kindertagesstätten, Kindergärten, Schulen, Universitäten, Kliniken, Hospitälern, Bibliotheken, Museen, Kinos, Theater und Oper. Sie muss Turnhallen, Sportstadien, Gärten und Parkanlagen beherbergen, Bahnhöfe, Häfen und Flughäfen.
Das Programm wird dem Stadtbauer vom Bauherrn, sei dieser öffentlich oder privat, vorgegeben. Aber der Stadtbauer muss das Programm prüfen, hinterfragen, gegebenenfalls ergänzen und korrigieren. Und er muss die Funktionen, welche die Stadt zu erfüllen hat, so verteilen, dass sie nicht vereinzelt und nebeneinander, sondern als in sich stimmige Mischung auftreten. Zwischen Wohnen und Arbeiten mag eine Trennung befürwortet werden, aber beides sollte nicht weit voneinander entfernt liegen. Die Wohnfolgeeinrichtungen können und müssen mit dem Wohnen und Arbeiten vermischt werden. Nur so ergeben sich kurze Wege, Synergien, produktive Spannungen und überhaupt das, was wir als Urbanität bezeichnen. Das heißt: Bevor ein Stück Stadt erfunden wird, muss dessen Programm erfunden werden. Dieser Prozess erfordert genauso viel Kreativität wie der Stadtentwurf, und letztlich genauso viel Poesie. Natürlich besteht ein Programm aus Zahlen und Flächen, natürlich gründet es auf Analysen und Bedarfsermittlungen; aber bereits diese Analysen, diese Ermittlungen, diese Flächen und Zahlen müssen schöpferisch interpretiert, zusammengestellt, durcheinandergewürfelt und neu miteinander kombiniert werden.
Das Programm muss, bevor es Stadt wird, in einen Plan umgesetzt werden. Dieser hat zuallererst die öffentlichen Räume zu bestimmen. In der Stadtplanung der letzten Jahrzehnte sind sie zunehmend in den Hintergrund getreten, waren das, was nach der Bestimmung der privaten Parzellen und ihrer Erschließungsflächen übrig blieb, gerieten in Quartieren, die von einzeln stehenden Bauten geprägt waren, zu Resträumen, die es nachträglich zu verhübschen galt. Genau das Gegenteil muss geschehen, und das Gegenteil war in jedem historischen Stadtprojekt, das diesen Namen verdient, der Fall. In der antiken Stadt wurden zunächst die Freiräume angelegt, die Plateias, Stenopoi und die Agora in der griechischen Stadt, die Viae, Ambiti und das Forum in der römischen. Sie wurden planiert und gepflastert, mit öffentlichen Profanbauten und mit Tempeln ausgestattet, mit Kunstwerken geschmückt. Die privaten Parzellen waren das, was übrig blieb, und ihr Zuschnitt hatte sich ebenso der übergreifenden Stadtzeichnung zu unterwerfen wie der Einzelne der Gemeinschaft.
Funktionell und gut gestaltete öffentliche Räume machen eine Stadt nicht nur ästhetisch attraktiv. Sie regen die Menschen an, sich mehr zu Fuß oder mit dem Fahrrad fortzubewegen, was weniger Energie verbraucht und weniger Verschmutzung verursacht; auch weniger Lärm, sodass das urbane Wohnen angenehmer wird. Wenn die Menschen zunehmend Mobilität aus eigener Kraft praktizieren, wird nicht nur die Stadt, sondern es werden auch ihre Bewohner gesünder. Und wenn mehr spaziert, gelaufen und fahrradgefahren wird, wenn die Straßen und Plätze anziehend sind und Aktivitäten ermöglichen und anregen, werden sie belebter und damit sicherer: ohne allgegenwärtige Videokameras und Sicherheitsdienste. So wird die Stadt letztendlich auch wirtschaftlicher – und insgesamt ein Ort höherer und nachhaltiger Lebensqualität.
Doch ist der öffentliche Raum mehr als das, was erforderlich ist, um die Erschließungs- und Mobilitätsfunktionen der Stadt unterzubringen, mehr als eine hübsche Zutat für schöngeistige Faulenzer. Auch mehr als ein geschickter Motor des selbstregulierenden Systems Stadt, mehr als ein schlauer Anreiz zum heftigeren Konsumieren, besseren Arbeiten und einfallsreicheren Produzieren. Bevor er technokratisch besetzt und kommerziell umgewidmet wurde, war der Stadtraum der Ort der res publica schlechthin: in dem sie geboren, erfunden, gepflegt und verwaltet wurde.
In der Tat ist der Geburtsort der modernen Demokratie nicht ein Wald oder ein Park, auch nicht ein Palast, eine Patriziervilla oder eine Anwaltskanzlei, sondern ein urbaner Raum: die Agora von Athen. Die politische Geschichte unserer Zivilisation wurde auf den Plätzen unserer Städte gemacht: Auf dem Forum Romanum wurden die zwölf bronzenen Tafeln aufgestellt, das älteste Rechtsdokument des antiken Rom, und dort wurden auch Tiberius Sempronius Gracchus und seine Gesinnungsgenossen von den Anhängern der reaktionären Senatspartei erschlagen; auf der Piazza della Signoria in Florenz ließ die Inquisition Girolamo Savonarola verbrennen; auf dem Campo de' Fiori im mittelalterlichen Herzen Roms wurde Giordano Bruno hingerichtet; auf der Pariser Place de la Révolution (ursprünglich ausgerechnet Place de Louis XI, dann Place Neuve, heute Place de la Concorde) fiel ein Großteil der französischen Aristokratie unter der Guillotine; der auf dem Berliner Königsplatz versammelten Menge verkündete Philipp Scheidemann das Ende des Kaiserreichs und die Geburt der Republik; von der Mailänder Piazza di San Sepolcro nahm der italienische Faschismus seinen Anfang, um über die demagogischen Triumphe von Piazza Venezia in Rom auf der trostlosen Fläche von Piazzale Loreto, wiederum in Mailand, ein gleichermaßen trostloses Ende zu finden; auf dem Roten Platz in Moskau wurden die Riten des Realen Sozialismus abgehalten; die Protestkundgebungen auf dem Prager Wenzelsplatz führten zur Überwindung der polnischen Diktatur.
Die Kirchen schufen sich Plätze und Straßenzüge, um Predigten und Prozessionen wirkungsvoll abzuhalten, die wirtschaftlichen Mächte die Marktgasse in Bern, die Grand’Place in Brüssel, den Alten Markt (heute Rynek Glowny) in Krakau, die Piazza degli Affari in Mailand. Und für die großen Spiele, für die Turniere, Wettkämpfe, Theatervorführungen und Stadtfeste wurden eigens Plätze wie der Campo in Siena oder die Piazza Castello in Turin oder der Largo di Palazzo in Neapel oder die Place Royale (heute Place des Vosges) in Paris eingerichtet. Heute sind die Mechanismen der Politik, der Religion, der Ökonomie und der Kultur subtiler und diffuser, aber auf die urbanen Räume können und wollen sie nicht verzichten. Nach wie vor finden große politische Veranstaltungen nicht nur im Fernsehen, sondern auch und in erster Linie im urbanen Raum statt. Nach wie vor verleiht der Papst seinen Ostersegen urbi et orbi auf jenem Petersplatz in Rom, den Gian Lorenzo Bernini für Alexander VII. gestaltet hat. Nach wie vor drängen die multinationalen Großbanken und Modeboutiquen an die noblen städtischen Straßen, Alleen und Esplanaden. Nach wie vor finden Feste und Konzerte auf den Domplätzen, den Marktplätzen, den Hauptplätzen der (nicht nur) europäischen Metropolen statt.
Denn wir wollen in der Stadt nicht nur wohnen, einkaufen, lernen, arbeiten, uns amüsieren. Wir wollen mehr. Dieses Mehr hat David Hume 1752 in seinem Essay Of Refinement in the Arts beschrieben: »Je mehr sich diese verfeinerten Künste fortbilden, um so geselliger werden die Menschen (…). Sie ziehen gruppenweise in die Stadt, lieben es, Wissen aufzusaugen und auszuteilen, ihren Geist und ihre guten Manieren vorzuführen, ihren Geschmack in Konversation und Lebensführung, in Kleidung und Einrichtung. (…) beide Geschlechter begegnen sich in einer leichten und geselligen Art und Weise, und die Charaktere wie auch das Benehmen der Menschen verfeinern sich entsprechend.«2»The more these refined arts advance, the more sociable do men become (…). They flock into cities; love to receive and communicate knowledge; to show their wit or their breeding; their taste in conversation or living, in clothes or. furniture. (…) both sexes meet in an easy and sociable manner, and the tempers of men, as well as their behaviour, refine apace.« David Hume, »Of Refinement in the Arts« (1752), in: Hume’s Political Discourses. With an Introduction by William Bell Robertson, London/Felling-on-Tyne: The Walter Scott Publishing Co., o. J., S. 15–26, hier S. 17/18.
Ganz im Sinn der europäischen Aufklärung, zu deren exponiertesten Protagonisten er zählt, beschwört Hume die Stadt als Dispositiv zur Verbesserung des Menschen; und den Antrieb dieses Dispositivs in der Neigung, ja der Leidenschaft, »Wissen aufzusaugen und auszuteilen«. Um diesen Anspruch einzulösen, müssen die öffentlichen Räume nicht nur ausgespart, sondern auch gestaltet werden.
Für diese Gestaltung gibt es keine Rezepte, wohl aber Beispiele. Sie sind in der Geschichte der Stadt zu finden. Die großartigen Straßen, Plätze und Parkanlagen, die in der Vergangenheit geschaffen wurden und derer wir uns heute immer noch erfreuen, sind Lehrstücke für die erfolgreiche Beziehung zwischen gebauten Räumen und sozialen Prozessen, die sich in der Zeit erhalten und bewährt haben. Wir können sie nicht nachahmen, aber wir können daraus lernen. Die Geschichte der Stadtarchitektur ist ein Gedächtnis von Strategien, das auf aktuelle Ansprüche hin befragt werden kann und muss.
Zu den verheerendsten Missverständnissen, die den zeitgenössischen Städtebau plagen, gehört jenes der Erfindung um jeden Preis. Jeder Architekt, der sich anschickt, ein Stück Stadt zu entwerfen und zu planen, meint, sich auf ein verbrieftes Recht auf Neuschöpfung berufen und von allem verabschieden zu dürfen, was vor ihm war, sowie sich von allem abzusetzen, was um ihn ist. Ja noch mehr: Er meint, unbedingt anders und neu sein zu müssen, weil er sonst Gefahr läuft, nicht beachtet oder gar als rückwärts gewandter Langweiler verspottet zu werden.
Das war nicht immer so; das war sogar jahrtausendelang anders. So sehr die öffentlichen Räume und die öffentlichen Gebäude, die sakralen wie die weltlichen, ein besonderes Gesicht erhalten sollten, so wenig sollten sich die Wohnbauten der Stadt, also ihre architektonische Hauptsubstanz, hervortun. Sie wurden optimiert und standardisiert und hatten von der Norm, die aufgestellt wurde oder sich aus den Entstehungs- und Lebensbedingungen ergab, möglichst wenig abzuweichen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch riet Pierre Le Muet, ein französischer Architekt, der mit seinem Handbuch Manière de bastir pour touttes sortes de personnes ein bedeutendes Stadtbaumanual schuf, jedes neue Haus in einer Straße möglichst dem anzupassen, was bereits dort stand; und empfahl treuherzig denjenigen, die keine wirklich gute Architekturidee hatten, ein schönes städtisches Gebäude in der Nachbarschaft auszuwählen und es einfach zu kopieren. Das wurde auch vielerorts getan, mehr oder minder exakt, und so stellen sich die meisten Städte, die wir bewundernd lieben, als harmonische Abfolgen des immer Gleichen oder zumindest Ähnlichen, das lediglich behutsam und zuweilen virtuos variiert wird.
An einer neuen Stadt, einem neuen Stadtquartier müssen bei aller Unaufgeregtheit mehrere Gestalter beteiligt werden, sonst bleibt es dünn wie ein hochvergrößertes Modell. Aber einer von diesen Gestaltern muss den Gesamtplan erfinden, zeichnen und verantworten: Eine Stadt braucht einen Autor oder eine Autorin.
Die zeitgenössischen städtebaulichen Projekte, die großen wie die kleinen, scheinen zur Anonymität verurteilt. Es wird gemeinhin nicht eine, sondern es werden verschiedene Planungen in Auftrag gegeben, sie werden überlagert, vermischt, verwässert, zerredet und verschliffen, und am Ende unverhältnismäßig aufwendiger und erstaunlich langweiliger Prozesse kommt etwas heraus, was keiner der zahllosen Beteiligten verantworten will und tatsächlich auch nicht zu verantworten hat. Die Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen und die Vermischung gegensätzlicher Gestaltungsvorstellungen gebären eine Mittelmäßigkeit, die niemanden zufriedenstellt und mit der sich niemand identifiziert.
Es ist unstrittig, dass das Programm für ein urbanes Projekt nur politisch formuliert werden kann, und dazu braucht es die vielstimmige, auch die kontroverse Debatte. Aber etwas Schönes entsteht nur dann, wenn man jemanden, dem man es zutraut und dem man vertraut, machen lässt. Auch für den Städtebau trifft das Bonmot des Kamels zu, das Ergebnis der Bemühungen eines Komitees gewesen sein soll, das ein Pferd fabrizieren wollte. Zugegeben: Jede größere Stadt ist eine Überlagerung verschiedener Planungen und eine Addition, zuweilen sogar eine Collage unterschiedlicher Stadtviertel. Aber jede Planung, jedes Stadtviertel ist nur dann der Rede wert, wenn es von einem Stadtbauer gezeichnet wurde – allein gezeichnet und mit großer Freiheit. Das gilt für das antike Milet von Hippodamos wie für das Bern der Zähringer Fürsten, für das Sabbioneta von Vespasiano Gonzaga und Girolamo Cattaneo wie für das Rom von Sixtus V. und Domenico Fontana, für die Berliner Südliche Friedrichstadt von Philipp Gerlach (unter persönlicher Mitwirkung von König Friedrich Wilhelm I.) wie für das neu aufgebaute Lissabon von Eugénio dos Santos, für das Paris von Napoleon III. und Georges-Eugène Haussmann wie für das Barcelona von Ildefonso Cerdà. Das gilt für das Amsterdam-Süd von Hendrik Petrus Berlage wie für das Le Havre von Auguste Perret und seinem Atelier.
Freilich sind diese Beispiele aus der Vergangenheit, und vieles ist heute anders. In der Stadtplanung gibt es kein omnipotentes Subjekt, die Mittel sind unzureichend, die Akteure zerstritten, weil sie gegensätzliche Interessen vertreten und sich nur auf einen verschwindend kleinen gemeinsamen Nenner zu einigen vermögen, das Bewusstsein des unzulänglichen Wissens über die Stadt, ihre Komplexität und ihre Entwicklungsgesetze wirkt paralysierend, der stete Wandel, in dem sie begriffen ist, lässt sie unfassbar erscheinen. Aber gerade deswegen ist es erforderlich, dass jemand mit Mut, vielleicht auch mit Übermut und einer Dosis Leichtfertigkeit all das betrachtet, reflektiert und sich daraufhin über manches hinwegsetzt, um der Stadt eine Form zu verleihen.
Das ist weniger verwegen, als es zunächst scheinen könnte. Städte und Stadtteile leisten, wenn sie robust entworfen sind, viel mehr als das, wofür sie ursprünglich vorgesehen waren. Kreuzberg in Berlin entstand im späten 19. Jahrhundert als Wohnort des Bürgertums. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Bau der Mauer verkamen die Häuser und dienten als billiger Wohnraum für wenig begüterte Einwanderer, vor allem Türken. In den sechziger Jahren kamen Studenten und Hausbesetzer hinzu, und das Viertel geriet zum Zentrum einer jungen alternativen Szene, die harmonisch und geradezu synergetisch mit den Einwanderern koexistierte. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Berlin (IBA) zahlreiche Häuser behutsam saniert und damit auch für kleine Angestellte attraktiv. Nach dem Fall der Mauer rollte eine Welle der gentrification über das Quartier hinweg, das eine Renaissance als bevorzugter Wohnort der Jungen, Wohlhabenden und vorzugsweise Kreativen erlebte. Der gleiche städtebauliche Plan, die gleiche Bebauung erfüllte in etwas mehr als hundert Jahren die Bedürfnisse von völlig unterschiedlichen Klassen, Kulturen und sozialen Gruppen.
In der Tat ist jede Architektur, jede Stadt für das Leben keine Zwangsjacke, sondern lässt ihm einen gewissen Spielraum. In den gleichen Räumen kann Unterschiedliches stattfinden, auch Unvorhergesehenes. Die Fehlinterpretationen der Planer sind in der Regel nicht so tödlich, wie es Heinrich Zille unterstellte, als er erklärte, man könne einen Menschen mit einer Wohnung ebenso erschlagen wie mit einer Axt. Allerdings müssen die Planer dafür Sorge tragen, dass in ihren Räumen Freiheiten erhalten bleiben: indem sie keine Maßanzüge schneidern, sondern weite, bequeme Gewänder. Das verlangt nicht nur handwerkliches Können, sondern auch Bescheidenheit und Gelassenheit.
Deswegen wohnen und arbeiten wir nach wie vor gerne in den Stadtstrukturen der Vergangenheit. Sie sind alle für Menschen gebaut worden, die ganz anders lebten als wir, lassen aber jeden Raum für andere, moderne Lebensformen. Mehr noch: Ihre klaren Strukturen, ihre eindeutigen Formen bieten einen Halt für unser Leben, das sich an diesen Formen und Strukturen reiben kann, um in ihnen wirklich heimisch zu werden.
Am 16. März 1972 wurde die Siedlung Pruitt-Igoe in St. Louis, Missouri, vom angesehenen Architekten Minoru Yamasaki entworfen und keine 20 Jahre alt, gesprengt. Die ehemaligen Bewohner jubilierten. Der englische Architekturkritiker Charles Jencks nahm das aufsehenerregende Ereignis zum Vorwand, das Ende der Moderne und den Beginn der Postmoderne zu verkünden. Die Sprengung leitete eine Reihe von Abrissen in den Städten der Vereinigten Staaten von Amerika und von Europa ein, die hauptsächlich Großsiedlungen der sechziger und siebziger Jahre betrafen; darunter größere Teile von Sarcelles.
Als untauglich hatten sich die großen Wohnstrukturen weniger aufgrund ihrer tristen Architektur als wegen ihrer Eindimensionalität und Unflexibilität erwiesen. Es waren reine Wohnsiedlungen, was sie in Schlafstädten verwandelte, und sie enthielten Wohnungen für sozial Schwache, was zu Ausgrenzungen und Konflikten führte. Die Mietskasernen der Gründerzeit mit ihren schlechten, aber konventionellen Konstruktionen und ihren einförmigen, aber neutralen Grundrissen konnten ohne großen Auswand umgewidmet und umgebaut werden, um anderen Zwecken zu dienen als jenem, dem sie ursprünglich zugesprochen waren. Die Nachkriegssiedlungen mit ihren vorgefertigten Betonkonstruktionen und ihren hoch spezialisierten Grundrissen konnten es nicht.
Geben wir es zu: Die Stadt, jede Stadt ist so komplex, dass sie sich nicht wirklich planen lässt. Jedes Programm, das wir einer Stadt zugrunde legen, wird früher oder später obsolet und wird durch andere Bedürfnisse abgelöst. Damit nicht auch die Stadt abgelöst wird, muss sie kräftig und flexibel genug sein, auch Lebensformen aufzunehmen, die wir nicht vorhergesehen haben und vielleicht auch gar nicht vorhersehen konnten. Sie muss genügend Offenheit besitzen, das Ungedachte und Unplanbare aufzunehmen.
Noch die schönsten Städte sind anders erdacht worden, als sie sich uns gegenwärtig darstellen. Barcelona ist heute eine Stadt mit hoher Dichte und überwiegend vollständig überbauten Blöcken. Cerdà hatte sie als urbane Gartenstadt erdacht, mit nur zweiseitiger Parzellenbebauung und Gärten, die über die Hälfte der Grundfläche einnehmen sollten. Es kam also ganz anders, als er dachte und wünschte, aber sein Plan ist gleichzeitig stark und offen genug, dass er die Spekulation, die über ihn hinwegrollte, einigermaßen gelassen hinzunehmen vermochte.
Stadt entsteht dort und nur dort, wo das öffentliche Interesse über das private gestellt wird; Stadt ist gebaute Gemeinschaft. Das muss die Politik sicherstellen, mit vielleicht unbequemen und unpopulären Vorgaben, aber auch der Architekt, mit innovativen, zu sämtlichen ominösen Trends querliegenden Lösungen. Was heute unzeitgemäß und eigenwillig erscheinen mag, wird möglicherweise morgen als richtig und tragfähig erkannt. Die Gretchenfrage, die sich jeder Stadtbauer stellen muss, der nicht unter Flauberts gnadenloses Anathema ¬fallen will, lautet: »Was werden unsere Kinder und ihre Enkel zu dem sagen, was wir hier bauen?« Wir sollten sie mit der Zuversicht beantworten können, dass unsere Kinder und unsere Enkel gern, gesellig, produktiv und vergnügt in unseren neuen Städten leben werden.
Veröffentlicht als: »Programm und Offenheit. Kritische Gedanken zur zeitgenössischen Stadtplanung«, in: Neue Zürcher Zeitung 234 (2013), Nr. 97, 27. April 2014, S. 61/62.